Es sind nicht nur die „Spaziergänge“ der COVID-19 Kritiker, die über soziale Netzwerke wie Telegram organisiert werden. Jeglicher Protest bedient sich heute moderner Kommunikationsinstrumente, organisiert sich mit verteilten Aufgaben und Rollen in Netzwerken. Eine solche Arbeitsteilung stärkt die Wirksamkeit, minimiert den Einsatz von Ressourcen, kurzum: Sie ist hocheffizient.
Dieser Beitrag bewertet nicht die Inhalte einzelner Aktionen. Das grundgesetzlich geschützte Recht zu demonstrieren und seine Meinung kundzutun, ist in der Demokratie ein hohes Rechtsgut und unverzichtbar. Dazu zählt auch die Nutzung von sozialen Netzwerken. Gleichwohl lohnt sich ein Blick auf die Art und Weise, wie Protest heute organisiert wird. Das Beispiel der Autobahn-Blockierer steht hier stellvertretend für viele Protestaktionen. Die BERLINER MORGENPOST beschrieb jüngst in einem Beitrag mit dem Titel „Das System „Klimaprotest“ wie die Protestaktionen Essen retten – Leben retten organisiert werden, wie die Autobahn-Blockierer trainieren, wie sie sich psychologisch vorbereiten und wo das Geld für die Aktionen herkommt. Berlin ist der Hotspot der Protestaktionen. Fast täglich werden Autofahrer durch spontane Aktionen, besonders in den Morgenstunden, an der Weiterfahrt zum Arbeitsplatz gehindert. Menschen blockieren Straßen, in dem sie sich auf den Boden setzen und ihre Hände mit einem speziellen Klebstoff auf den Asphalt „kleben“. Den Ordnungskräften gelingt es nur mit Mühe und Aufwand, die Personen von der Straße zu bekommen. Es dauert bis zu einer Stunde, bis die Beamten den Kleber gelöst haben und die Aktivisten wegtragen. Beliebtes Ziel der Proteste sind u.a. Autobahnabfahrten, wie die A 100 in Berlin. Lange Staus sind die Folge. Die Aufmerksamkeit auf die Aktionen ist medial und politisch gewollt. Noch einmal: Hier geht es nicht um die Bewertung der Aktionen, sondern allein darum, wie die Abläufe und organisatorischen Maßnahmen der Proteste organisiert werden. Dem früheren Präsidenten des Bundeskriminalamtes Jörg Ziercke werden die Worte zugeschrieben, dass man „vor die Lage“ kommen muss. Das bedeutet, zu wissen, wie sich Dinge entwickeln.
Die Aktionen in Berlin werden u.a. getragen von Klimaktivisten aus ganz Deutschland, vornehmlich von „Die letzte Generation“. Sie verlangen eine gesetzliche Regelung, dass noch konsumierbare Lebensmittel aus Geschäften nicht weggeworfen werden. Eine wichtige Plattform für die Logistik der Proteste ist die Webseite letztegeneration.de. Hier finden sich u.a. Online-Vorträge und Angaben über Präsenzvorträge, die das Thema in die Breite der Gesellschaft tragen sollen. Online-Vorträge gibt es jeden Donnerstag um 18.00 Uhr und sonntags um 14.00 Uhr. Sie dienen neben der Informationsvermittlung auch zur Rekrutierung von Aktivisten. Wer mitmachen möchte, kann das nach den Vorträgen sagen oder sich per Mail melden. Wer sich zur Teilnahme an Aktionen entscheidet, nimmt an entsprechenden Trainings teil. Hier werden Tipps gegeben, wie man sich bei den Aktionen verhalten soll. Unabhängig von der Blockierung von Straßen gibt es weitere Aufgaben, die ein Unterstützer erledigen kann. Dazu zählt die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur. Wohnungen werden angemietet, die Protestierende vor Ort kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Finanziert werden die Aufwendungen über Spenden. Es werden vor Ort kleine Gruppen gebildet, die gemeinsam die Aktionen auf der Straße planen und durchführen. Einer wählt spontan neuralgische Orte mit großer Wirkung aus und informiert die Mitglieder der Gruppe. Organisiert wird auch die Medienarbeit, konkret heißt das, dass jemand mit dem Smartphone Bilder und Videos von der Straßenbesetzung macht und diese ins Netz stellt. Das Internet und die sozialen Netzwerke sind unverzichtbare Instrumente, agil Blockaden zu organisieren und die Beweggründe für den Protest in die öffentliche Aufmerksamkeit zu bringen. Bei Spotify gibt es mehrere Episoden zu den Aktionen der Letzten Generation. Kommuniziert wird über den Twitter-Account Essen Retten – Leben Retten. Bei Facebook werden u.a. die Vorträge angekündigt. Instagram und LinkedIn werden ebenfalls bespielt.
Noch steht Berlin im Mittelpunkt der Aktionen. Sie sollen aber offenbar auch auf andere Städte ausdehnt werden. Die regionalen Präsenzveranstaltungen und die Online-Vorträge sind dabei wichtige Bausteine der dezentralen Strategie für weitere Aufmerksamkeit. Nach Presseberichten kündigten die Aktivisten inzwischen neue Aktionen an, wie die Störung von Flughäfen und Häfen.
Bemerkenswert ist, dass die Organisation der Proteste über Netzwerke dezentral organisiert wird. Verteilte Ressourcen werden gebündelt, weitgehend autonome Gruppen mit hoher Eigendynamik gebildet. Qualifizierung und Unterstützung einzelner Personen als auch der Gruppen erfolgen ebenfalls über Netzwerke. Auf diese Entwicklungen müssen sich auch Verwaltung und Politik einstellen. Die Abläufe finden nicht mehr sequenziell, sondern häufig parallel statt, sie sind weder einzuordnen noch zu kontrollieren. Das Verwaltungshandeln läuft in der Praxis oftmals „den Dingen hinterher“. Der mit einer Anmeldung von Demonstrationen einhergehende strukturierte Ablauf, zum Beispiel von Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von Passanten als auch von Protestlern, gerät an Grenzen. Neue Lösungen sind auch hier notwendig.