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Melderecht & Co: Bürger machen Politik

„Merkels neues Meldegesetz macht Staat zum Datendealer, sogar gegen den Widerspruch Betroffener. Wo bleibt die Empörung?“ Mit diesen 121 Zeichen trat Sigmar Gabriel, Parteivorsitzende der SPD, eine Lawine los. Die Empörung folgte auf dem Fuße.
 Obige 121 Zeichen wurden am 5. Juli 2012 via Twitter getätigt. Die Verabschiedung des erwähnten Gesetzes geschah aber schon am 28. Juni 2012, also genau eine Woche vor Gabriels Tweet. Keiner hatte also das umstrittene neue Meldegesetz auf dem Schirm. Hätte es nicht diese 121 Zeichen gegeben, würde vielleicht niemand in Deutschland über das – in nur 57 Sekunden in erster und zweiter Lesung verabschiedete – Gesetz reden. Die SPD schickte zwar eine Pressemitteilung raus an die Redaktionen, doch da am 29. Juni die Abstimmung über den ESM im Bundestag war und tags zuvor Deutschland gegen Italien im EM Halbfinale stand, ging diese Email in den Postfächern der Verlagshäuser einfach unter.
Dieses Beispiel zeigt in fulminanter Weise, wie politische Kommunikation und Agenda Setting im Sommer 2012 funktioniert. Man hatte schon immer das Gefühl, dass politische Kommunikation in Zeiten des Web 2.0 an Fahrt aufgenommen hat und seit der Plagiatsaffäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg die Netz-Community lauter und einflussreicher geworden ist. Doch irgendwie scheint sich die (Social Media-) Welt seit einigen Wochen noch schneller zu drehen.
Vor einiger Zeit war noch der einhellige Tenor: Einige Protestbewegungen entwickeln sich aus dem Internet heraus, haben dort ihren Ursprung. Dort schließen sich die Meinungsführer zusammen und eine breite Masse wird für bestimmte politische Ziele und Aktionen begeistert. Diese Bewegung müsse jedoch unbedingt den Sprung in die analoge Welt, den Sprung auf die Straße schaffen, um wirklich etwas zu erreichen.
Das wurde durch einige Beispiele widerlegt. Politischer Protest hat oft nicht nur seinen Ursprung im Netz, politischer Protest protestiert und handelt nunmehr auch meistens über das Web 2.0. Die Straßen bleiben ruhig und friedlich, doch die Glasfaserkabel glühen. Dieser Trend lässt nicht auf Faulheit und Phlegmatismus schließen, sondern auf das feine Gespür der Protstler für Effektivität und Effizienz. Der Return on Investment ist bei politischen Aktionen via Social Media anscheinend relativ hoch.
Zurück zum Thema Meldegesetz: Am Montagmorgen, dem 09. Juli 2012, vier Tage nach dem Tweet von Sigmar Gabriel, startete der gerade einmal zwölf(!) Mitglieder zählende gemeinnützige Verein campact e.V. auf seiner Internetseite eine Interschriftenaktion, welche über den Email-Account der Unterzeichner funktionierte. Am Dienstagabend hatte der Appell an die Vertreter des Bundesrates, welcher das Gesetz noch beschließen muss, bereits 104.000 Unterzeichner, am folgenden Freitag waren es schon über 160.000. Das sind Größenordnungen und Geschwindigkeiten, welche ohne das Internet schlicht und ergreifend nicht möglich sind. Der Fortgang der Beratungen des Meldegesetzes ist bekannt, selbst die Bundesregierung – die den Gesetzentwurf zum Melderecht eingebracht hatte – erklärte, dass es im Bundesrat durch Anrufung des Vermittlungsausschusses zu ändern kommen werde. „Der Fall zeigt, wie sehr Politik und Gesetzgebung eine Sache von Kommunikation ist. Wer sie beherrscht, kann ein Gesetz auch dann noch verhindern, wenn es schon beschlossen ist“, schreibt Jasper von Altenbockum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.  Über das Instrument der Anhörungsrechte nehmen die Ausschüsse des Parlaments Meinungen von Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen zur Kenntnis. In der  Geschäftsordnung des Bundestages ist die Vorgehensweise beschrieben. Die hiermit gesuchte Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit wird durch das Internet nicht nur erweitert, sondern wesentlich verstärkt. Bürgerinnen und Bürger schaffen sich ihren eigen öffentlichen Raum, in dem sie mobilisieren, ohne dass sie dazu strukturierte Kommunikationsräume brauchen. Spontanität, Authentizität, Kommunikations- und Kampagnenfähigkeit und Web 2.0 Tools sind plötzlich wirkungsvoller als in Ausschüssen durch Dritte vorgetragene Stellungnahmen.   
Hat man einmal den Appell zum Meldegesetz auf www.campact.de unterschrieben, kann man seinen guten Namen auch noch gleich für andere Appelle hergeben. Beispielsweise einen Appell für höhere Vergütung von Hebammen mittels Rechtsverordnung an Gesundheitsminister Daniel Bahr oder einen Appell gegen Nahrungsmittelspekulationen mit konkreten Vorschlägen und Forderungen an Bundesfinanzminister Schäuble und Bundeslandwirtschaftsministerin Aigner. Alles bequem vom Laptop auf dem Tisch im Café oder dem Smartphone aus.
 Ein anderes Beispiel ist die Anti-ACTA-Bewegung. Zigtausende protestierten in ganz Europa, auch auf der Straße. Die Demonstranten, welche oft aus der Umgebung der für Redefreiheit und gegen Urheberrecht im Internet auftretenden, losen Gruppe „Anonymous“ kam, mobilisierten Mengen an Menschen (Off- und Online), welche ungeahnte Dimensionen erreichten. Es führte soweit, dass sich selbst die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger genötigt sah, die deutsche Ratifikation auszusetzen. Nach einer breiten gesellschaftlichen Debatte wurde ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) dann einige Zeit später verworfen.
 Die Zahl derjenigen, die sich der Verfassungsbeschwerde zu Euro-Rettungsschirm und Fiskalvertrag über eine Vertretungsvollmacht gegenüber Mehr Demokratie e.V. angeschlossen haben, ist inzwischen, einschließlich der nach Fristablauf nur noch deklaratorische Bedeutung habenden Vollmachten, auf über 25.000 angestiegen. Organisiert wurde diese Kampagne ebenfalls über das Internet (verfassungsbeschwerde.eu).
 Das von einigen Pessimisten ins Feld geführte Argument, Veränderung sei per Mausklick oder per Meinungsäußerung in einem Blog, irgendwo im World Wide Web nicht möglich, ist also so nicht richtig. „Mal eben in der Mittagspause mit eins, zwei Klicks Politik machen“ ist vielleicht zu Recht etwas sarkastisch formuliert, jedoch sind die Barrieren für politische Teilhabe und Protest seit dem Web 2.0 immens gesunken. Können einige Leute mit etwas Aufwand und guten Social Media-Skills genug Aufmerksamkeit generieren und somit eine kritische Masse an Menschen für ein gewisses Ziel mobilisieren, dann „macht man Politik, mit eins, zwei Klicks“.
 Doch was man in diesem Prozess nicht vergessen darf, ist die Reaktion der Politik, das reagierende Handeln der gewählten Vertreter. Nur wenn diese für das politische Engagement im Internet sensibilisiert sind, werden sie in Erwägung ziehen sich mit dem Protest auseinander zusetzen. Die Bürger können durch das Internet ihren politischen Willen effektiv verbalisieren, und das Internet wirkt bei der politischen Willensbildung noch zusätzlich wie ein Katalysator. Der Zukunft des politischen Engagements im Netz kann man gelassen und optimistisch entgegen sehen. Wer sich selbst Gehör verschafft, verleiht seiner eigenen Stimme Gewicht.

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