Freude auf der einen Seite, Ratlosigkeit auf der anderen Seite. Das Ergebnis des Volksentscheides zur Nachnutzung des ehemaligen Berliner Flughafengeländes Tempelhofer Feld zwingt die Parteien und den Senat nicht nur zum Nachdenken, es zeigt auch, wie sich Politik in einer vom Bürger getragenen Gesellschaft neu formatiert. Die Zeit der Masterpläne aus der Verwaltung ist vorbei.
In Berlin werden Weichen gestellt, wie es weitergeht mit den politischen Strukturen, mit der Ausbalancierung von Macht und einem Sinn stiftenden Gemeinwesen. Und zwar nicht in der Bundespolitik, wie man beim Namen Berlin erwarten könnte, sondern unten auf der lokalen Ebene der Hauptstadt. „100 Prozent Tempelhofer Feld“ ist das wohl derzeit bekannteste politische Bürgerbeteiligungsprojekt in Deutschland. Anders als in Stuttgart stehen hier nicht zwei Fronten unverrückbar und unversöhnlich gegenüber. Es geht nicht um Erhaltung oder Veränderung. Die alten Trennlinien zwischen Verweigerer und Befürworter gibt es nicht mehr. Beide Seiten wollen Veränderung, aber nicht so, wie es sich die Politik heute vorstellt.
Tempelhofer Feld ist auch Ausfluss des Unbehagens einer Alltagspolitik, die weitgehend durch Institutionen selbst bestimmt, wo es lang geht.
In Berlin geht es nicht um Stillstand wie in Stuttgart, sondern darum, dass sich etwas bewegt. Tempelhofer Feld macht deutlich, dass Bürgerinnen und Bürger in einer Welt, in der der Zugang zu Informationen dank der Digitalisierung immer leichterer wird, in der sich Millionen von ihnen mit ihren Smartphones im Minutentakt austauschen, mehr Offenheit und Transparenz von ihrer Stadt erwarten. Sie wollen frühzeitig an der Entwicklung ihrer Stadt beteiligt werden. Sie verstehen sich als Co-Produzenten, sie wollen ihr Wissen einbringen, sie wollen Services teilen mit anderen, die gleiche Services nachsuchen. Bei dem Slogan „Bitte hier nicht bauen“ liegt die Betonung auf dem Wort „hier“ und nicht auf dem Wort „nicht“. „Anders bauen“ gibt vielleicht die Stimmung am Besten wider.
Die Befürworter des Volksentscheides Tempelhofer Feld lassen sich nicht einfach beschreiben mit Begriffen wie „Träumer, Laubenpieper, ewigen Studenten oder auf dem Surfbrett fahrenden Transferempfänger“. Die Gruppe ist nicht mehr homogen. Es aktivieren sich auch die Urbanisten 2.0, die die Städte aus dem Quartier heraus entwickeln wollen, die Urban-Gardening-Projekte in die Tat umsetzen, die wieder verstärkt ihre Stadt erobern, die Diskurse über die Entwicklung der Stadt verlangen. Sie wollen ihren Lebensraum, die Zukunft ihrer Stadt mitgestalten. Sie wollen die Stadt kleinteiliger entwickeln, anders, smarter, ressourcenschonender, nachhaltiger, effizienter, partizipatorischer aber gleichwohl wachstumsorientiert. Sie wollen mehr Vernetzung, nicht nur untereinander, sondern auch der verschiedenen Politiken wie Mobilität, Energieversorgung, Bildung, Sicherheit und Gesundheit und Ernährung. Sie verkörpern den Trend des Lokalen, des Überschaubaren und sind damit Protagonisten des Bedeutungszuwachses der Städte im Vergleich zu den Nationen. Das ist kommunale Selbstverwaltung pur im 21. Jahrhundert. Der Journalist Johannes Schneider schreibt im Tagesspiegel: „Ein Feld (Anmerkung gemeint ist das Tempelhofer Feld), das funktioniert wie eine Open-Source-Software, an der jeder mitwerkeln kann und keiner muss, das nie zur Marktreife gelangt, immer ein „Beta-Typ“ bleibt, aber sich stetig fortentwickelt, ist das perfekte Identifikationsangebot für diese junge Generation. Deren Haltung wird Entscheidungsprozesse demokratischer und notgedrungen auch schwerfälliger machen. Großprojekte zu realisieren dürfte künftig komplizierter werden“. Besser kann man es nicht formulieren. Weiterlesen